Kulturpunkt
Quelle: Catrin George. In: kulturpunkt. http://www.catringeorge.blogspot.pt/2013/05/heinrich-von-der-haar.html
Kulturpunkt 23. Mai 2013
Quelle: Catrin George. In: kulturpunkt. http://www.catringeorge.blogspot.pt/2013/05/heinrich-von-der-haar.html
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kulturpunkt.- Brief-Gespräch mit dem Schriftsteller Heinrich von der Haar Kurzvita www.heinrichvonderhaar.de
Sieben Fragen-Sieben Antworten von Catrin George ©
Lieber Heinrich von der Haar,
Sie sind unser zweiter Autoren-Gast in 2013 beim kulturpunkt. - in der Algarve. Bem vindo und herzlich willkommen. Bevor wir Sie am Karfreitag Live bei einem literarischen Kolloquium in der Biblioteca de Aljezur in den Räumlichkeiten der Tertulia begrüßen werden, möchte ich Sie und Ihre Bücher in einem Brief-Gespräch gerne vorstellen.
Ihr Debüt-Buchtitel „Mein Himmel brennt“, das Sachbuch „Kinderarbeit in Deutschland“- Dokument und Analyse, sowie Ihr brandneuer Roman „Der Idealist“, sind beim Kulturmaschinen Verlag, Berlin, erhältlich.
Ihre beiden Roman Erzählungen verbindet eine Zeitspanne mehrerer Jahrzehnte über den Protagonisten beider Bücher - Heini. Heini wächst in den Fünfziger Jahren im Münsterland in einem winzigen Dorfweiler namens Steinhop auf und lebt mit seinen zehn Geschwistern, den Eltern und der Schwester des Vaters in beengten Wohnverhältnissen. Seine Kindheit ist geprägt von Prügel, Arbeit, Drohung und Strafe. Im Laufe des Romans „Mein Himmel brennt“ wächst das Kind zum pubertierenden Jungmann heran, der sich immer heftiger gegen seinen Vater aufzubäumen beginnt.
1. Sie beschreiben in Ihrem Buch in anrührend bildhafter Kontinuität, wie sich Heini entwickelt, welche Schlüsselerlebnisse ihn begleiten, welche innerlichen Konflikte ihn zermürben. Ihrer Sprachgewandtheit schafft ein detailliertes Bild von Heini und seinen Geschwistern, all Ihre Figuren kommen dem Leser plastisch aus dem Buch entgegen. Die Nähe zu Ihrer Hauptfigur, lieber Heinrich von der Haar, wie haben Sie die entwickelt?
Wer versetzt sich schon gern in eine schwierige Kindheit eines Bauernjungen, der weitab vom Dorf, ohne Rad und Radio, aber mit katholischer Prügelerziehung und endloser Kinderarbeit aufwächst, was ihm seine Kindheit raubt? Vergessen kann überlebenswichtig sein. Nach vierzig Jahren Entwicklung in der fernen Großstadt war es für mich ein Abenteuer, sich zu erinnern, mit der Gefahr, die emotionale Stabilität zu verlieren: Das Gedemütigtsein als plattsprechender, stinkender Bauernjunge, die Gewalt in der Schule und Familie, die Überforderung durch Arbeit. Oft erzwingt eine Erschütterung ein Zurückgehen in die eigene Kindheit. Wie bei mir, als ich niedergeschlagen wurde. All die erinnerten Erlebnisse, auch die anderer Kinder im Dorf, können sich dann zu einem Roman auswuchern.
2. In Ihren Dialogen, die Ihrem Roman Bildhaftigkeit und Tempo über die Geschehnisse verleihen, schreiben Sie zum Beispiel die Stimme des Vaters konsequent Münsterländisch Platt. War das schwierig und was hat Ihr Lektor später dazu gesagt?
Schwierig? – Im Gegenteil: Erinnerungen sind gebunden an die Sprache, wie an Gerüche. Zunächst habe ich in Platt geschrieben, aber mir war schnell klar: Das versteht kaum noch einer. Deshalb ich alles übersetzt, und nur wenige (leichte) Sätze beim Antagonisten belassen, dem Vater, der den Hof auch durch Kinderarbeit und Prügel zu retten versucht, sich aber der Moderne, auch der hochdeutschen Sprache widersetzt.
3. Heini wird täglich geprügelt, das hinterlässt äußere und innere Spuren. Als Sie Ihr Debut auf einer Lesereise durch das Münsterland, sowie anderorts und auch in der Algarve, vorgestellt haben, welche Reaktionen haben Sie erreicht?
Oft polarisiert die Lesung. Einerseits fanden manche Gäste die 50er Jahre als friedvoller, freier und glücklicher als heutige Zeiten. Ich würde das Münsterland schlechtmachen, es sei üble Nachrede. Ich hätte wohl nicht genug Prügel gekriegt und bräuchte mich da nie wieder sehen zu lassen, hieß es vereinzelt. Ein Veranstalter bekam Drohungen. Ein Pfarrer hat seiner katholischen Bücherei das Anschaffen von Mein Himmel brennt verboten. Manche tabuisieren die Tatsache, einen prügelnden Lehrer oder Vater gehabt zu haben, was nachvollziehbar ist.
Andererseits äußerten sich viele sehr betroffen und dankbar, dass der Junge Heini in dem Roman eine Stimme bekommen hat, und reagierten mit überwältigender Anteilnahme, auch in unzähligen Leserbriefen. Das Verschweigen der Benachteiligung von Kindern in Bauerndörfern in der Wirtschaftswunderzeit müsse aufhören. Und sich noch zu schämen, nur platt zu sprechen, Holzschuhe zu tragen, kinderreich und arm zu sein, nicht auf die Realschule zu dürfen, immer arbeiten zu müssen, wenn andere Ferien haben. Damit rechnen zu müssen, jederzeit weggegeben zu werden. Dieses allein gelassen werden, geprügelt, missbraucht zu werden, und dann noch das Verschweigen der geraubten Kindheit beschweigen.
Ich finde es genugtuend, dass heute in einem Teil der katholischen Büchereien und Pfarreien eine Lesung aus Mein Himmel brennt möglich und sich teilweise eine kritische Haltung gegenüber der brutalen Erziehung der 50er Jahre entwickelt.
4. Körperliche Strafen, Kinderarbeit, ein Thema, das in der Zeit, die Sie in „Mein Himmel brennt“ als Handlungszeitraum in Ihren Plot einweben, ich formuliere es einmal so, niemanden besonders auf die Barrikaden gebracht hat. Das Thema an sich und in sich, beschäftigt Sie - aber nicht nur als Romanautor.
Sie haben ein Sachbuch über dieses Thema veröffentlicht, das in überarbeiteter Neuauflage ebenfalls im Kulturmaschinen Verlag erhältlich ist. Misshandlungen an Kindern, in Form von Kinderarbeit, und seelischer Grausamkeit, bis hin zu Übergriffen sexuellen Antriebes, sind auch heute noch im Jahr 2013, stigmatisierte Tabu-Themen. Aber Sie legen den Finger in die Wunde und decken auf. Ein mutiges Buch, ein wichtiges Buch. Wie kam es dazu?
„Kinner mit nem Willen, kriegen wat vor de Brillen!“ Den Willen der Kinder muss man brechen, war in den 50er Jahren in manchen Regionen die Erziehungsregel, oft auch von katholischen Glaubensträgern, denen nach dem NS-Zerfall moralische Autorität zugewachsen war. Wer Lehrer und auch Eltern mit dieser Prügelpädagogik hatte, konnte als Kind sein Haupt nicht erheben. Erst Mitte der 70er Jahre wurde der Rohrstock in den Schulen verboten, aber Gewalt in vielen Familien blieb die Regel. Einzufordern, dass Schulpflichtige auch Menschen mit individuellen Rechten sind, ist immer noch nötig.
5. „Kinderarbeit in Deutschland“, nach wie vor oder wieder besonders ein aktuelles Thema. Lieber Heinrich von der Haar, in Ihrem Buch vereinigen sich Kapitel über dieses Kernthema und seine gesetzliche Festlegung, bzw. Auslegung. Ein umfangreiches Zeitdokument. Welche Erfahrungen konnten Sie während der Recherche sammeln?
Das Erstaunlichste: Viele meinen, Kinderarbeit gebe es bei uns kaum noch - aber sie ist für mehr als ein Drittel der Kinder in Deutschland bedeutsam. Dann hört man oft den leichtfertigen Vorwurf, es handele sich um „konsumgierige“ Kinder. Erschreckend gleichgültig stehen viele der Vernachlässigung der Schule und den gesundheitlichen Schäden durch Kinderarbeit gegenüber. Die familiären Notlagen sind weitgehend unsichtbar und scheinen unerheblich. Die Scham der aus Not arbeitenden Kinder und ihrer Familien verstärkt das Tabu noch.
6. Sie gehen in diesem Buch noch einen Schritt weiter und berichten über Kinderarmut, Straßenkinder, und Kinderprostitution, in Deutschland – Heute - sowie die Instrumentalisierung von Kindern für zum Beispiel Mediengeschäft und Sport. Manch einer mag sich wundern, was das mit Kinderarbeit zu tun hat. Können Sie den Zusammenhang verdeutlichen?
Bei Kinderarbeit handelt es um Erwerbstätigkeiten Schulpflichtiger gegen Entgelt: Ob nun überehrgeizige Mütter ihre Töchter in die Mode- oder Filmbranche drängen, ob Kinder aus verwahrlosten Familien sich „selbstständig“ ihr Geld für Drogen auf dem Strich verdienen, ob osteuropäische Väter ihre Jungen zum Betteln auf die Straße schicken oder ob Kinder aus armen Familien sich für ihren Lebensunterhalt z. B. zum Putzen verdingen müssen - die Gesellschaft und der Staat dürfen sich ihrer Schutzpflicht für Kinder nicht entziehen.
7. Ihr neues Buch „Der Idealist“ feierte vor wenigen Wochen Premiere. Heini ist nun ein junger Mann. Heiner. Die Geschichte beginnt laut Leseprobe bei Stunde Null, nämlich als sich Heini auf den Weg macht, Steinhop zu verlassen. Sein Ziel: Berlin. Lieber Heinrich von der Haar, ohne zu viel zu verraten, denn wir möchten ja gerne mehr über „der Idealist“ und Live als Zuhörer erfahren, wie fühlt sich das Ankommen in Berlin für Heini an und wohin führt uns diesmal Ihr magischer Erzähl-Faden?
Der Enge des Münsterlandes zu entfliehen, riecht nach Freiheit. Der Provinzler möchte seine Vergangenheit eintauschen gegen die Freiheit in der Großstadt, gegen die Studentenrevolte der frühen 70er und die Macht, die Welt zu verändern. Die Reise führt durch die wechselnden Landschaften von Erinnerung und Geschichte, in eine Welt, in der die Wahrheit sich von einem Moment zum anderen verändert.
Das wird nicht aus der Sicht von heute erzählt, sondern aus der der damals handelnden Personen: über ihre Versuche und Wagnisse, Hoffnungen und Erfolge, Selbsttäuschungen und Niederlagen. Die Ereignisse der 70er Jahre werden mit den Schicksalen von fünf Menschen in der WG verflochten, die den Aufbruch aus autoritären Elternhäusern gemeinsam haben. Es geht um Sehnsucht nach Gerechtigkeit, aber auch um Dogmen und um die Macht der Angst. Über zarte Versuche freier Liebe und Entsagung, Wohngemeinschaft und Einsamkeit, Aufbegehren und Sicheinfügen.
Der Leser erlebt das Brennen Heiners für sein Gerechtigkeitsideal, den Zweifel an der Studentenbewegung, das Suchen und Finden, das Gewinnen und Verlieren. Im Studium und der Liebe, in der WG und bei politischen Aktionen, als Lehrer und Vater. Der Soziologiestudent will die Ursachen der Ausbeutung begreifen und bekämpfen. Aber die Schatten der Vergangenheit holen ihn ein - die Gewalt, die ihm angetan wurde, und alte Schuldgefühle.
Erzählt wird von der Zerrissenheit, mit der er sich zwischen tiefer Ablehnung seines Heimatortes und Anpassung an den neuen befindet. Wird ihm die Versöhnung mit Vater gelingen? Was hilft ihm seine Willenskraft und seine Bodenständigkeit? Endlich kann er etwas verändern - glaubt er. Was er jedoch erntet, ist Wut, und die eskaliert …
Vielen herzlichen Dank, lieber Heinrich, wir freuen uns auf Sie
Quelle: Catrin George. In: kulturpunkt. http://www.catringeorge.blogspot.pt/2013/05/heinrich-von-der-haar.html
kulturpunkt. - Revue
Zusammenfassung eines literarisch bunten kulturpunkt. Nachmittags in Aljezur in der Biblioteca Aljezur von Berenike Jacob anlässlich des einjährigen Bestehens der Bücherei: Ihr wollt wirklich eine Lesung am Karfreitag veranstalten? - Ja, wir wollen und nicht bloß eine.
Es ging los ab 14 Uhr, hieß es in der Ankündigung, ab 15 Uhr füllte sich der kleine Saal, in dem die Assoziation Tertulia und die Bücherei von Berenike Jacob zu Hause sind.
Es gab köstliche selbstgebackene Kuchen und Berliner, Kaffee, Sekt und Tee - und jede Menge gute Lektüre. AutorInnen zum Anfassen lautete das Motto - und so verbrachte das Kultur interessierte Publikum den Nachmittag mit Vorlesungen und Gesprächen, Moderation und Fragestunde.
Die AutorIn Alina Stoica erzählte anschaulich von ihrer schriftstellerischen Gefühlswelt, wie sie Ideen entwickelt und was für sie besonders wichtig ist in ihre Geschichten handwerklich einzubauen. Ihr Bestreben, Spannung mit Gefühl zu verbinden, gelingt ihr auf einfühlsame Weise in ihren Gedichten genauso wie in ihrem Debütroman "Gänseblümchen aus dem Jenseits" - und zwar so authentisch, dass ihr Publikum am Ende ihrer Lesekostprobe den Atem anhielt und auf mehr wartete.
Cliffhanger, grinsten die Kollegen, und freuten sich für Alina und ihren direkten Draht zu ihren neu gewonnenen Fans und künftigen LeserInnen.
Nach einer gemütlichen Pause mit regem Austausch zwischen AutorIn und ihren Zuhörern ging es weiter mit dem Schriftsteller Heinrich von der Haar.
Nach einem kurzen Einführungsmodus entführte Heinrich sein Publikum in die düstere Kindheit eines Jungens namens Heini im Münsterland und mitten hinein in sein Buch "Mein Himmel brennt". Der Autor beschreibt das Aufwachsen des Jungens inmitten von zehn Geschwistern auf einem Bauernhof in bescheiden wirtschaftlichen Verhältnissen Ende der 50/60 Jahre, und wie die damals weit verbreitete Prügelstrafe im Elternhaus, genauso wie in der Schule, den Protagonisten prägt.
Die Geschichte begleitet uns in Erinnerungswelten vieler Kinder, die längst erwachsen sind und eigene Familien gegründet haben, und das Thema Prügel und Missbrauch selten oder gar nicht vertiefen möchten.
Heini wird groß, er kommt in die Pubertät und beginnt das Elternhaus, die Kirche und das Landleben infrage zu stellen. Immer öfter kommt es zu Streit mit dem Vater und die Konflikte spitzen sich zu.
Heinrich von der Haar entlässt seine Zuhörer ebenfalls mit einem Cliffhanger zu seinem nächsten Buch, "Der Idealist". Heini kehrt dem Münsterland den Rücken und macht sich auf den Weg in ein neues Leben, sein Leben, nach Berlin. Seine Suche nach sich und auf der Spur seiner Ideale stolpert Heini, nun Heiner, über eigene und fremd gestellte Fallen und erlebt so manches Abenteuer, bis er seinen Weg findet. Die Trilogie rund um das Leben und Werden von Heini, wird 2014 mit einem dritten Roman die geplante Trilogie abrunden. Zum Abschluss des Nachmittags las Catrin George zwei Miniaturkapitel aus ihrem Manuskript "Algarve - Verführe mich!" vor.
Résumé: Auch der zweite Buch- und Lese-Nachmittag, mit dem literarischen Kolloquium in der Bücherei von Berenike Jacob, war ein Erfolg.
Vielen herzlichen Dank an das Publikum, die Zuckerbäckerinnen, die AutorInnen, und ganz besonders an Berenike Jacob und Tertulia! Wir freuen uns auf das nächste Mal